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Die Farben unserer Werte im Licht des Modells ''Spiral Dynamics''

 

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Grundbedingung für das Leben jedes Einzelnen ist und bleibt
Dass er selbst versuche sich zu wandeln.
Dass er lerne, die Knüppel, welche man ihm vor die Füsse wirft,
nicht als Hindernisse sondern als Sprungbretter zu benützen.

Jean Gebser

 

 

 

 

Unser Klima im Wandel, Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, eine sich selbst beschleunigende technologische Entwicklung, die unsere Art wie wir wahrnehmen, denken, kommunizieren, lernen, kennenlernen und miteinander arbeiten tiefgreifend verändert ... Verwerfungen auf allen Ebenen, da passen gewaltige Erdbeben wie jene in Ecuador, Japan und Nepal gut ins Bild einer Welt, die ins Wanken gekommen, wenn nicht gar aus den Fugen geraten ist. Phasen der Stabilität sind allenfalls Zeit-Inseln der Ruhe, zufällig entstanden durch sich kurzfristig gegenseitig aufhebende, sich in Schach haltende Kräfte in einem unentwegt tosenden Meer. Das war schon immer so, werden geschichtsbewusste und lebenserfahrene Menschen, die schon ganz andere Zeiten erlebt haben, antworten: Nichts Neues.

Ob neu oder nicht - Grund genug, in dieser kalten Zeit die wärmende Bettdecke über den Kopf zu ziehen und sich bedeckt zu halten angesichts all dessen, was da um uns herum geschieht? Wer dies bei starkem Wellengang auf hoher See tut und sich unter Deck verzieht, wird schneller seekrank, als jener der oben bleibt, die Augen öffnet und den Horizont als Anker für die Augen nutzt. So kann unser Gehirn noch am ehesten den üblen Wellengang in Bezug zu einem festen Dreh- und Angelpunkt wahrnehmen, ohne uns den Magen umzudrehen. Dieses Prinzip hilft nicht nur auf dem Meer. Doch welche Horizonte suchen wir Menschen, wo finden wir Orientierung und festen Boden, wenn so vieles schwankt?

Werte geben uns Orientierung und sind wesentlich für unser Wahrnehmen, Denken und Handeln. Werte bestimmen, worauf wir achten, wie wir etwas gewichten, interpretieren, entscheiden, miteinander leben und mit Interessenskonflikten umgehen, worin wir den Sinn des Lebens sehen – falls wir solch einen sehen. Jedoch: Werte sind nicht direkt beobachtbar, sondern werden aufgrund von beobachtetem Verhalten vermutet, um Verhalten zu erklären und vorherzusagen. Welche Werte können wir zum Beispiel bei demjenigen vermuten, über den geschrieben steht: "Sebastião Salgado dokumentiert in selbst ausgewählten weltweiten Langzeitprojekten über Jahre hinweg mittels Schwarz-Weiß-Fotografien das Leben der Menschen vor allem am unteren Ende der Gesellschaft, insbesondere auch solchen aus der sogenannten Dritten Welt. Nach Jahren entstehen so umfangreiche Bildbände und beeindruckende Wanderausstellungen."? [1]

Werte können wir auch so verstehen: an ihnen richtet sich die innere Kompassnadel des Menschen aus, sie sind also für die Steuerung ebenso bedeutsam wie der Nordpol für den Seefahrer. Und so wie es für den Seefahrer nicht nur den Nordpol, sondern auch die Sterne, die Seekarten und inzwischen auch moderne Navigation mithilfe von Satelliten gibt, so gibt es auch für Menschen nicht nur einen Wert, sondern ein System von Werten, die einander ergänzen und manchmal auch zu Wertkonflikten führen (zum Beispiel: "Lasse ich mich bei einer beruflichen Entscheidung eher vom Wert der Freiheit oder vom Wert der Sicherheit leiten?"). Gibt es Wertkonflikte, zittert unsere Kompassnadel und wir fragen uns: Was soll ich tun?

Menschen kann man für Verhaltensänderungen gewinnen, wenn man sie in ihren Werten anspricht. Wenn wir an einer Zukunft interessiert sind, in der nicht nur wir, sondern auch unsere Kindeskinder noch leben können, ist es hilfreich, sich mit verschiedenen Wertsystemen vertraut zu machen, denn Werte steuern das Handeln von uns allen - sieben Milliarden sind wir mittlerweile. Und wie wir sieben Milliarden Menschen uns verhalten, wird ganz wesentlich die Erde verändern und somit Einfluss auf unsere Zukunft haben - so oder so.

Wer Verhalten von Menschen beeinflussen will, kann dies – grob gesprochen – auf zweierlei Weise tun: gewinnen oder zwingen, mit all den Spielarten zwischen diesen beiden Polen: Verführen, locken, werben, belohnen, drohen, manipulieren, intrigieren, inspirieren, überzeugen, einbinden, gemeinsam entscheiden und gestalten.

Es ist eine Frage der Macht, die einem in einer gegebenen Situation gegeben ist, der persönlichen Werte und der konkreten Herausforderung, wie man auf dieser Klaviatur der Einflussnahme spielen mag. So werde ich ein kleines Kind, das einfach auf die Straße laufen will, mit festem Griff davon abhalten - ohne vorher sein Einverständnis abzuholen, durchaus aber später am Tag mitentscheiden lassen, welches Spiel wir spielen. Das mag für viele noch einleuchtend sein.

Wie aber sieht es aus, wenn es um die Verteilung von Macht in einem Unternehmen geht: Wie werden Entscheidungsprozesse gestaltet? Wer darf bei welchem Thema mit welchem Gewicht mitreden und den Kurs des Unternehmens mit bestimmen? Wer solche Diskussionen führt und sich nicht einig wird, wird vermutlich auch über Werte reden müssen – und sein Menschenbild.

Und wie sieht es aus, wenn eine Auseinandersetzung erstaunlich hitzig wird? Wo es emotional wird, ist meist etwas Wesentliches bedroht, etwas, das jemandem am Herzen liegt: womöglich ist ein (Selbst-)Wert in Frage gestellt oder gar verletzt worden. Häufig ist einem selbst nicht sofort klar, welcher Wert da unter den eigenen aufkochenden Gefühlen pulsiert.

Werte sind Herzensangelegenheiten, aus ihnen schöpfen wir Kraft und Sinn. Was uns wichtig ist, das wollen wir auch in unser Leben bringen.

Wer Menschen für etwas gewinnen will, muss sie in ihren Werten ansprechen, und dafür ist es hilfreich, ein Gespür dafür zu entwickeln, in welchem Wertesystem sie zu Hause sind. Und wer es mit den Mitteln der Macht versucht, wird erfahren, dass die Folgen seines Handelns - anders als bei einem Stein, den er verrücken will – weniger von Gewicht und Form, sondern von den Werten desjenigen abhängt, den er da zu schieben versucht. Wird der andere sich um des lieben Friedens willen unterordnen oder Widerstand im Dienste seiner Überzeugungen und Würde leisten oder dankbar für die klare Führung sein?

 

Welche Wertsysteme gibt es und wie entwickeln sie sich?

Worin Menschen Orientierung finden, glaubte C. Graves - ein US-amerikanischer Professor (1914-1986) - in seinen jahrelangen Studien herausgefunden zu haben: Er hat acht typische Wertesysteme beschrieben, zu denen Menschen je nach persönlicher Entwicklung und Komplexität ihrer Umwelt derzeit neigen. Unter einem Wertesystem wird eine typische Kombination von Werten und Grundhaltungen verstanden, mit denen es Menschen in einer gegebenen Umwelt gelingt, Orientierung für ihr Handeln zu gewinnen und eine gemeinsame Kultur zu schaffen. Solche Wertesysteme sind nicht an sich gut oder schlecht, sondern funktional - auf deutsch: sie dienen einem Zweck, sie sind dem (Über-) Leben dienlich. Wie nützlich in diesem Sinne solche Wertesysteme sind, hängt auch von den Herausforderungen der Umwelt ab. Verändert sich der Mensch hinsichtlich Reifegrad und Fähigkeiten oder die Anforderungen seiner Umwelt wesentlich, kommt es zu einer Krise, die erst durch die Entwicklung einer nächst höheren, d. h. komplexeren Ebene oder den Rückfall auf eine frühere Ebene bewältigt wird. Anders gesagt: In der Not sinken wir auf den Ebenen der Entwicklung entweder nach unten oder erklimmen die nächst Höhere.

Die Logik des Modells "Spiral Dynamics"

Das Modell geht davon aus, dass die Ebenen aufeinander aufbauen und von der Menschheit sowohl in ihren kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungen als auch von jedem Menschen in seinem individuellen Reifungsprozess durchlaufen werden. Die nächstfolgende Ebene entwickelt sich jeweils aus der Überwindung der Begrenzungen und damit einhergehenden Probleme der vorherigen Ebene. Krisen sind in dem Sinne also entwicklungsfördernd. Entwickelt sich ein Mensch (oder die Kultur einer Gesellschaft) weiter, werden die Qualitäten der vorherigen Ebene beibehalten und dienen dem nun dominierenden Wertesystem. Zum Beispiel wird ein Erwachsener sich nur noch in bestimmten Situationen erlauben, was ein kleines Kind noch gar nicht anders kann: sich von seinen Impulsen spontan leiten lassen. Bei einem Kleinkind ist das Ausleben von Impulsen dominant – es kann fast nicht anders. Hingegen ist für einen Erwachsenen die Fähigkeit, spontan einem Impuls folgen zu können, durchaus eine Qualität, solange er die Folgen verantworten kann und auch mal zu verzichten weiß: Anders als das Kind kann er dem Impuls widerstehen, wenn Wichtigeres durch das Ausleben des Impulses gefährdet wäre.
 

Im Folgenden beschreibe ich die stufenweise Entwicklung des Menschen aus Sicht des Modells "Spiral Dynamics", wobei ich jeweils zunächst den dominanten Modus skizziere, der bei erstmaligem Erreichen der jeweiligen Ebene ausgelebt wird und dann die Qualität, die als Kraftquelle und Ressource in komplexeren Situationen zur Verfügung steht.






 

 

 

Die Farben, die Beck und Cowan den verschiedenen Ebenen der Entwicklung zugeordnet haben, dienen der einfachen Verständigung im Rahmen dieses Modells, wobei sie warme Farben für jene Wertsysteme gewählt haben, die durch eine Innensteuerung des Verhaltens charakterisiert sind, während die kühlen Farben Wertesysteme bezeichnen, die zu einer Außensteuerung des Verhaltens führen. Da die Entwicklung zwischen Innen- und Außensteuerung pendelt (im Bild: Horizontale) und gleichzeitig mit jeder weiteren Ebene die Integration vorheriger Ebenen zunimmt (im Bild: Vertikale) entsteht eine spiralförmige Entwicklung.

Eine entsprechend gefärbte menschliche Silhouette steht in der Grafik für den dominanten Modus eines Wertesystems, mit dem versucht wird, aktuelle Herausforderungen zu meistern. Die farblichen Schattierungen in der Spirale stehen für die Qualitäten, die wir uns durch das erfolgreiche Ausleben jeder Ebene in unserer Entwicklung hin zu komplexeren Ebenen bewahren und die uns bei Bedarf weiterhin zur Verfügung stehen.

Wichtig ist mir, dass solche Kategorien nicht als Schubladen missbraucht werden, um Menschen einzuordnen und ihr Wesen auf ein Etikett zu reduzieren. Das Modell soll eher ein differenziertes Verständnis der verschiedenen Wertesysteme ermöglichen, auf die nach Auffassung von Clare Graves die gewaltige Bandbreite menschlichen Verhaltens zurückzuführen ist.

Im Bild des Modells gesprochen wird man bei jedem Menschen verschiedene Farbschattierungen entdecken, die eine einzigartige Mischung darstellen. Mitunter wird darin ein beispielsweise rötlicher, blauer oder orangener Farbstich sein und insofern dem Gesamteindruck eine gewisse dominante Farbtemperatur verleihen. Was bedeutet das?

Nach Ansicht von Clare Graves haben sich bisher im Laufe der Menschwerdung folgende Ebenen herauskristallisiert:


1. Ebene (beige) 

Der Mensch wird nackt und hilflos geboren und ist in der Äußerung seiner Bedürfnisse absolut egozentrisch, denn es geht ums nackte Überleben und deshalb ist nur wichtig, was diesem Überleben unmittelbar dient – und das heisst: Atmen, Trinken, Essen, Schlafen.

Dominanz: Entwicklungsbedingt im Kleinkindalter oder in einer Notsituation, in der Verhungern droht, spielt Esskultur keine Rolle. Ich esse, was mir als Essbares in den Blick gerät, und zwar sofort – ganz im Sinne von Berthold Brecht: "Erst kommt das Fressen, und dann die Moral!"

Qualität: Ich kann für meine physiologischen Bedürfnisse sorgen. Biologische Notwendigkeiten wie Nährstoffzufuhr und Wärme werden zur Grundlage für eine Ess- und Modekultur.

2. Ebene (violett) 

Der Mensch findet Sicherheit und Halt in seiner Stammesgemeinschaft, die ihn vor den Unwägbarkeiten und bedrohlichen Kräften seiner Umwelt schützt. Die Weltanschauung ist magisch. Orte, Tiere, Pflanzen und selbst Steine haben eine Seele. In heiligen Ritualen werden Götter und Geister milde gestimmt, für die Heilung von Krankheit gewonnen oder um Regen gebeten.

Dominanz: Der eigene Stamm oder Clan ist Schutz vor einer Welt, die durch magische, teilweise böse Kräfte beherrscht wird, die es durch Rituale zu besänftigen gilt. Der Mensch ist in seiner Tradition tief verwurzelt. Meine Ehre ist die Ehre meiner Familie und Ahnen. Was zählt ist die Blutsbande. Aus dieser Gemeinschaft verstoßen zu werden bedeutet Identitätsverlust. Die Ahnen, ihre Traditionen und ihr überliefertes Wissen sind heilig.

Mythos: Unser Schicksal wird durch Geister und Ahnen bestimmt. So glauben zum Beispiel die Zoé, ein indigener Stamm in Brasilien, dass die Sterne am Himmel die Geister ihrer Ahnen sind, die nun auf sie aufpassen.

Qualität: Die Zugehörigkeit zu meiner Familie und die Verbundenheit mit meinen Ahnen ist eine wichtige Wurzel, die mir in meinem Leben Halt und Richtung gibt. Ich kenne die gemeinschaftsbildende Kraft, die Rituale entfalten können und weiß sie im Einklang mit meinen Werten zu nutzen.

3. Ebene (rot) 

Irgendwann reicht nicht mehr der Halt und Schutz im Schosse der Stammesgesellschaft oder der Familie. Mit weiterer Reifung erwacht das egozentrische Ich, das seinen Willen durchsetzen will. Der Mensch erscheint impulsgesteuert, wenig zugänglich für vernünftige Argumente, die Frustrationstoleranz ist verschwindend gering. Es gilt das Faustrecht: Zu beobachten beispielsweise im Sandkasten, wenn ein Kind das Spielzeug eines anderen wegnehmen will. Aber nicht nur da. Im Bürgerkrieg werden diese Kräfte auf gesellschaftlicher Ebene deutlich sichtbar. "Jeder gegen jeden und Gott gegen alle". Jeder ist sich selbst der nächste. Diese rote Energie kann sich in Verbindung mit einem starken violetten Wertesystem (Clan, Stamm) zu mafiösen Strukturen herausbilden oder in Verbindung mit einem starken Blau (siehe nächste Ebene) zu einem kriegerischen Fundamentalismus wie dem sogenannten "islamischen Staat" auswachsen.
Der Film "Sin Nombre - Zug der Hoffnung (2009)"[2] ermöglicht eindrückliche Einblicke in die Welt der mexikanischen Gangs, charakterisiert durch Raub, Rache und brutale Selbstbehauptung (rot), sowie Organisation in Gangs mit dem Anspruch auf Revier und bedingungsloser Zugehörigkeit und Gehorsam (violett). Ungehorsam und Verletzungen von Reviergrenzen durch Mitglieder rivalisierender Gangs werden mit brutaler Gewalt geahndet. Siehe hierzu auch: Inside Gang Territory in Honduras: Either They Kill Us or We Kill Them (Artikel der New York Times, Mai 2019).

Dominanz: Ich. Ich. Ich. Ich will und das sofort. Und wenn Du mir im Wege stehst, schauen wir, wer der Stärkere ist. Starke Egozentrik.

Mythos: Zurück zur Natur und die Welt als Held im Alleingang retten!

Qualität: Ursprüngliche Lebensfreude, Vitalität, Spielerische Schöpferkraft. Unverfälschter Ausdruck von Spielfreude, Begierde, Neugier, Ärger und Kampfeslust. Ich kann mich voller Leidenschaft spontan für Ziele begeistern und andere emotional motivieren. Wenn notwendig, rede ich Klartext und scheue auch nicht die Auseinandersetzung, wenn es der Sache und meinen Werten dient. Der Krieger ist bereit, für höhere Werte mit dieser Energie in den Kampf zu ziehen.


4. Ebene (blau) 

Um die egozentrischen Kräfte zu zügeln, werden Machtstrukturen aufgebaut, Gesetz und Ordnung etabliert. Die heilige Ordnung lenkt die vitale Kraft in geordnete Bahnen und verhindert das Chaos, zu dem das wilde Spiel der egozentrischen Impulse führt. Das hat durchaus seinen Nutzen: In der Grundschule fassen sich die Kinder an der Hand und gehen in einer Reihe der Lehrerin hinterher. So wird das Ausscheren und der Ausbruch chaotischen Verhaltens erschwert. Im zivilisatorischen Prozess der Menschwerdung wurden mehr oder weniger erfolgreich staatliche Institutionen geschaffen, die Gewaltenteilung, Recht, Lebenssicherheit und eine demokratische Grundordnung garantieren. Das Volk ist nun der Souverän, nicht mehr der Stärkere. Doch Fragen bleiben und wollen immer wieder neu geprüft werden: Was wird als gefährliches Verhalten definiert, das bestraft werden muss, und falls ja, in welchem Ausmaß? Da gibt es gewaltige Unterschiede. Darf die Regierung kritisiert werden – und falls ja, in welcher Form? Darf sich ein Satiriker über Präsidenten lustig machen?

Dominanz: Die heilige Ordnung darf nicht hinterfragt werden. Das Oberhaupt ist unfehlbar. Wer nicht folgt, wird bestraft – subtil oder brachial. Disziplin, Gehorsam sowie Ein- und Unterordnung in eine gemeingültige Ordnung charakterisieren diese Ebene. Wer sich daran hält, wird später im Leben mit den Früchten seiner Arbeit, vielleicht aber auch erst im Jenseits von Gott dafür belohnt. Es gibt nur eine Wahrheit und diese gilt absolut. Sie wird nicht diskutiert, sondern von autorisierten Personen verkündet. Anweisungen werden entgegengenommen und nicht hinterfragt. Es gelten klare Machtverhältnisse. Die Autorität des Amtes bestimmt das Gewicht der Diskussionsbeiträge, nicht die Kraft der Argumente. Wer die Ordnung und verkündete Wahrheit hinterfragt, ist ein Ketzer und muss mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. Es herrschen fundamentalistische Sichtweisen vor. Die fortschreitende Verknöcherung des Systems macht es gefährlich schwer, auf eine sich wandelnde Umwelt kreativ und flexibel zu reagieren.

Mythos: Es herrscht eine von Gott gegebene Ordnung, Moral und eine absolute Wahrheit. Gesetz und Ordnung sind heilig. Es gibt nur einen Gott und das ist unserer.

Qualität: Regeln und Gesetze werden - sofern sie mit den eigenen Werten übereinstimmen - als sinnvolle und ordnungsstiftende Rahmenbedingungen geschätzt, an die man sich auch dann hält, wenn man sich unbeobachtet fühlt und / oder keine Bestrafung fürchten muss. Der Nutzen von Strukturen, Prozessen, Regeln und Normen wird als Voraussetzung für das gemeinsame Leben und Arbeiten erkannt.

5. Ebene (orange) 

Das Individuum rückt wieder in den Vordergrund. An die Stelle des Glaubens und magischen Denkens tritt nun die erfahrungsbasierte Erforschung der Welt. Der Mensch leitet mit der Kraft seiner Vernunft Naturgesetze aus systematischen Beobachtungen ab, mit denen er zunehmend die Naturkräfte für seine eigenen Zwecke zu nutzen weiß. Das Zeitalter der Aufklärung ist geprägt durch dieses orange Wertesystem. Es löst das blaue Wertesystem der mittelalterlichen Kultur und Gesellschaftsform ab: Magische Weltbilder werden durch naturwissenschaftliche Theorien ersetzt, die nicht den Anspruch haben, wahr zu sein, sondern nur der empirischen Überprüfung standhalten müssen, bis eine Theorie entwickelt wird, die beobachtbare Phänomene noch eleganter erklären und zuverlässiger vorhersagen kann.

In der persönlichen Entwicklung werden Regeln und Normen verinnerlicht und strategisch für eigene Ziele genutzt. Wissen wird erworben und Fähigkeiten werden geübt im Vertrauen darauf, dass mit entsprechendem Können und Willen das eigene Schicksal gestaltet werden kann. Der Mensch strebt nach persönlichem Glück und Erfolg. Alles ist ein Spiel, denn wer die Spielregeln kennt und fähig ist, kann gewinnen. In der individuellen Entwicklung geht diese Phase mit der Entzauberung der Kindheit einher. Die Heranwachsenden glauben nicht mehr an den Weihnachtsmann und stellen zunehmend kritische Fragen. Die Eltern sind nicht länger unfehlbare Autoritäten.

Dominanz: Der persönliche Erfolg, das Vertrauen auf die eigene Schaffenskraft zählen sehr viel. Ehrgeiz und die Lust, sich zu beweisen, ist ein starker Antrieb für das eigene Handeln. Die Natur, die Gesellschaft, der Mensch, der Markt ... alles wird erforscht, um das Wissen und das eigene Können strategisch für die eigenen Ziele zu nutzen. Glaube an die eigene Wirksamkeit. Individuelle Leistung soll sich bezahlt machen. Wettbewerb spornt an. Persönliche Leistung und Erfolg ist heilig. Die Krise dieser Ebene: Dagobert Duck hat es geschafft – er steht auf Bergen von Goldtalern und ist einsam. Der Gipfelstürmer entdeckt: Irgendwann sind alle Achttausender erklommen. Und dann? Erfolg ist nicht alles. Wo sind die anderen? Wozu das alles? Es stellt sich die Sinnfrage.

Mythos: Vom Tellerwäscher zum Millionär – für jeden gibt es diese Chance. Alles ist machbar. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir alles verstanden und im Griff haben. Probleme von heute lösen wir mit der Technik von morgen. Wir werden sie schon rechtzeitig erfinden.

Qualität: Vertrauen in das eigene Können, ein starker Wille, mit eigenen Kräften etwas zu erreichen. Fähig, sich selbst zu motivieren und zu steuern.

6. Ebene (grün) 

Mitgefühl und Sinn für Gemeinschaft erwacht. Das Gemeinwohl rückt in den Vordergrund. Kooperation ist wichtiger als Wettbewerb. In der gesellschaftlichen Entwicklung findet sich dieses Wertesystem in der aufkommenden sozialen Bewegung als Antwort auf die Auswüchse des sogenannten Raubtier-Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sozial- und Krankenversicherungen werden für Arbeitnehmer eingeführt. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 steht ebenfalls für dieses Wertesystem.

Dominanz: Das Wichtigste ist, dass es allen gut geht und jeder seinen Platz hat. Niemand wird ausgeschlossen. Um selbst nicht ausgeschlossen zu werden, ist man auch bereit, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, wenn diese nicht die Zustimmung der anderen finden. In einer Arbeitsgruppe kann dies bedeuten, dass im Zweifelsfall lieber die Erreichung von Zielen gefährdet wird, als dass jemand aufgrund ungenügender Leistung ausgeschlossen wird. Der Mensch ist im Grunde seines Herzens gut. Diese Überzeugung kann zu großer Toleranz bei sozial unverträglichem Verhalten oder mangelnder Leistung führen, denn es gibt vermutlich gute Gründe dafür. Deshalb bemüht man sich, diese zu verstehen, um entsprechend helfen zu können.

Mythos: "All you need is love". Wir sind alle eine Familie.

Qualität: Menschliches Miteinander wird geschätzt. Bei (Interessens-)Konflikten wird sorgsam zwischen der Sache und der Beziehung unterschieden. Klare Auseinandersetzungen auf der inhaltlichen Ebene werden geführt und gleichzeitig bleibt man wertschätzend gegenüber dem Anderen. Im sogenannten Harvard-Konzept der Verhandlungstechnik ist diese Haltung so formuliert: Hart in der Sache, weich zum Menschen.[3]

7. Ebene (gelb) 

Das große Ganze kommt in den Blick: Der Mensch ist eingebettet in eine komplexe lebendige Umwelt, die er in seinem wirtschaftlichen Handeln tunlichst respektieren, verstehen und nachhaltig pflegen sollte, wenn er an einer lebenswerten Zukunft für nachfolgende Generationen interessiert ist. Der Sinn des eigenen Handelns bezieht sich auf mehr als das eigene Wohl und das der Angehörigen. Es geht um den Erhalt von Gesellschaft und Natur als Grundlage allen Lebens. Das Streben nach Sicherheit wird relativiert durch die Erkenntnis, dass nichts so beständig ist wie der Wandel. Es geht mehr um die wirksame Förderung von Entwicklungsprozessen als die Aufrechterhaltung eines Status Quo. Einsicht in die unfassbare Komplexität alles Lebendigen lässt den Menschen auf dieser Ebene Ungewissheit und Nicht-Wissen gut aushalten, und nährt gleichzeitig eine lebenslange Lust am Lernen und Forschen. Wahrnehmen und Handeln ist geprägt durch eine systemische Sicht mit einem Sinn für komplexe Zusammenhänge. Entscheidungen basieren nicht nur auf rationalen Erwägungen, sondern auch auf Intuition. Die Arbeit findet vorzugsweise in Netzwerken von Experten unterschiedlicher Fachgebiete statt. Die Grundhaltung ist zugleich autonom und verbunden – autonom, weil man zum Beispiel bereit ist, für ungewöhnliche Ideen oder Projekte auch Unverständnis zu ernten, und dennoch seinen Überzeugungen zu folgen; verbunden, weil man dort, wo man Gleichgesinnte findet, gerne Wissen teilt, zusammenarbeitet und man das Wohl des Ganzen im Blick hat. Es muss nichts mehr bewiesen werden. Es geht darum, dem Leben zu dienen.

Mythos: Die Erde und ihre Biosphäre ist im Grunde ein einziger Organismus und wir als Menschheit sind nur ein kleines Subsystem darin. Alles ist mit allem verbunden. (Gaia-Hypothese von James Lovelock, Lynn Margulis). Wir alle sind eingebettet in ein unfassbar komplexes sich selbst organisierendes System, das nur in bescheidenen Ansätzen verstehbar, aber nie vollständig erfassbar ist.

Dominanz: Alles wird aus unterschiedlichen Perspektiven mit Hilfe komplexer Theorien und Modelle reflektiert und das eigene Handeln konsequent auf das Wohl des großen Ganzen ausgerichtet. Die Gefahr hierbei ist, andere nicht mehr für die eigenen Vorhaben gewinnen zu können, weil Denken und Handeln nicht mehr nachvollzogen werden kann: zu idealistisch, zu komplex, zu abgehoben.

Qualität: Sachverhalte werden aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und bewertet, bevor unter Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge entschieden und gehandelt wird. Man vertraut der Selbstorganisation lebendiger Systeme, auch wenn diese nur im Ansatz überblickt und kontrolliert werden können und beschränkt sich auf die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die diese lebendige Selbstorganisation ermöglichen.
Wer eindrückliche Beispiele für Projekte finden will, die dem Denken und Wertesystemen dieser Ebene entsprechen, sollte sich den Film "Tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen " nicht entgehen lassen.

8. Ebene (türkis) 

Sein mit dem was ist. Die Kraft des Nicht-Tun wird entdeckt. Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe. Der Prozess des Lebens entfaltet sich durch uns, wir dienen ihm, aber wir bestimmen nicht seinen Kurs. Wir lauschen nach innen, wir lassen uns leiten, wir stellen uns zur Verfügung, wir lassen uns überraschen, was durch uns werden will. Hingabe und Meditation werden als Tor zu einer Verbindung mit dem Göttlichen betrachtet und deshalb praktiziert.

Dominanz: Man lebt in Verbundenheit mit dem Göttlichen oder dem Tao, ist sich der Illusion, davon getrennt zu sein, bewusst und widmet sich den Aufgaben, die das Leben an einen heranträgt.

Qualität: unaufdringliche Präsenz, die inspiriert. Handeln dient dem Leben und ist nicht auf eigennützige Ziele fokussiert. Bedingungslose Liebe.
 

Damit sind die Ebenen des Modells mit Blick auf die Entwicklung des einzelnen Menschen beschrieben. C. Graves wendet dieses Modell wie bereits erwähnt auch auf Entwicklungen von Gesellschaften an. So gibt es beispielsweise die indigenen Völker, die mit ihren Wertesystemen der violetten Ebene zugeordnet werden (Leben im Stamm mit magischem Weltbild), stark hierarchisierte Gesellschaften (blau: mit unantastbaren Machtstrukturen und dem Glauben an die absolute Wahrheit) oder die liberalen, auf individuellen Erfolg ausgerichteten Gesellschaften (orange: "jeder ist seines eigenen Glückes Schmied"). Clare Graves ist überzeugt, dass sich im Laufe der Evolution noch komplexere Ebenen als Antwort auf eine zunehmend komplexere Umwelt entwickeln werden, deshalb ist die dynamische Spirale der Entwicklung nach oben hin offen. Daraus leitet sich auch der Titel seines Buches ab: "The Neverending Quest".

Worin sehe ich den Nutzen dieses Modells?

Wir sind sieben Milliarden Menschen mittlerweile – organisiert in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und Gruppierungen - mit so vielen verschiedenen Wahrheiten, Lebensentwürfen, Wertvorstellungen und Glaubenssystemen, für die viele von uns in den Krieg ziehen oder verfolgt und unterdrückt werden. Gleichzeitig gefährden wir die Zukunft nachfolgender Generationen durch unser ressourcenverzehrendes Wirtschaften und Leben. Wenn es so weitergeht, verdauen wir unsere eigenen Lebensgrundlagen.

Wir müssen uns als Menschen besser verstehen lernen, um zu einem friedlicheren Miteinander und nachhaltigeren Wirtschaften zu finden. Niemand weiß, ob uns das gelingen wird, aber es ist unsere einzige Chance, sofern wir eine haben. "Spiral Dynamics" ist für mich eine jener nützlichen Landkarten, die uns Orientierung geben im Umgang mit Menschen, die an ganz unterschiedlichen Orten ihrer Entwicklung stehen. So hat zum Beispiel Don Beck, einer der Autoren des Buches "Spiral Dynamics", anhand dieses Modells Bill Clinton, Tony Blair und Nelson Mandela beraten und das Modell zur Unterstützung des Übergangs zu einer Post-Apartheid-Ära in Südafrika eingesetzt[4].
 

Clare Graves empfiehlt eine entwicklungsorientierte Haltung, die anerkennt, dass jeder Mensch und jede Gesellschaft in ihrer Entwicklung nicht umhin kommt, die hier geschilderten Ebenen mit ihren Qualitäten aber auch Krisen als Auslöser für die weitere Entwicklung zu erfahren. Jede Entwicklung braucht ihre Zeit. Entwicklungsebenen können nicht übersprungen und beliebig beschleunigt werden. Entwicklung kann allenfalls behindert oder gefördert werden. Was dies für die Entwicklung eines Teams bedeutet, habe ich anhand eines Beispiels hier erläutert: Im Räderwerk der Teamentwicklung .
 

Fabian Scheidler, Autor des Buches "Das Ende der Megamaschine" schreibt:

"Für viele Menschen besteht die Utopie gerade in der Vision einer Welt, die eher einem großen Garten mit den verschiedensten Biotopen gleicht als einer geplanten Landschaft vom Typ des Versailler Schlossparks. Anstelle eines Masterplans zeichnet sich ein Mosaik, ein Patchwork von sehr unterschiedlichen Ansätzen ab, die an die jeweiligen lokalen und kulturellen Bedingungen angepasst sind. Der Ausstieg aus der Großen Maschine bedeutet eben auch einen Abschied vom universalistischen Denken, das – von der christlichen Mission bis hin zum Projekt des Weltkommunismus – den Anspruch auf die eine Wahrheit und die eine Vernunft erhoben hat [...]. Das Fehlen eines Masterplans nach diesem Muster ist kein Manko, sondern ein Lernfortschritt aus den Desastern der vergangenen Jahrhunderte."

Diese Utopie spricht mich sehr an und ist für mich eine Vision, die dem Wertesystem der "gelben" Ebene entspricht.

Max Frisch stellt die Frage "Wozu die Utopie?" und antwortet hierauf:[5]: "Ob es die Utopie ist von einer brüderlichen Gesellschaft ohne Herrschaft von Menschen über Menschen oder die Utopie einer Ehe ohne Unterwerfungen, die Utopie einer Emanzipation beider Geschlechter; die Utopie einer Menschenliebe, die sich kein Bildnis macht vom andern, oder die Utopie einer Seligkeit im Kierkegaard´schen Sinn, indem uns das allerschwerste gelänge, nämlich dass wir uns selbst wählen und dadurch in den Zustand der Freiheit kommen; die Utopie einer permanenten Spontaneität und Bereitschaft zu Gestaltung-Umgestaltung (nach Johann Wolfgang Goethe: Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung), alles in allem: die Utopie eines kreativen und also verwirklichten Daseins zwischen Geburt und Tod - eine Utopie ist dadurch nicht entwertet, dass wir vor ihr nicht bestehen. Sie ist es, was uns im Scheitern noch Wert gibt. Sie ist unerlässlich, der Magnet, der uns zwar nicht von diesem Boden hebt, aber unserem Wesen eine Richtung gibt in schätzungsweise 25000 Alltagen. Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz."

Welche Utopie spricht Sie an? Und falls es keine gibt, die Sie anspricht und Sie den Wert von Utopien an sich bezweifeln – ist Ihre Antwort vielleicht ein Hinweis auf Ihr persönliches Wertesystem?

Ingo Heyn

April 2016


 


 

Literatur 
 

  • Beck, Don E. and Cowan, Christopher C. : Spiral Dynamics (Deutsch), 2007
  • Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart teil 1. Das Fundament der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung. (Gesamtausgabe Band II) Novalis Verlag, 1986.
  • Graves, Clare W.: The Neverending Quest, edited by Christopher C. Cowan and Natasha Todorovic, (Englisch) 2005
  • Harari, Yuval Noah: Sapiens. A Brief History of Humankind, 2011
  • Laloux, Frédéric: Reinventing Organizations, 2014.
  • Scheidler, Fabian: Das Ende der Megamaschine: Geschichte einer scheiternden Zivilisation; Promedia, 2015


 

 


 

Weblinks 
 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. wikipedia: Sebastião_Salgado . Eine beeindruckende Dokumentation des Lebenswerkes des Fotografen Sebastião_Salgado ist Wim Wenders und Juliano Salgado mit dem Film "Das Salz dieser Erde" (2014) gelungen.
     
  2. Sin Nombre - Zug der Hoffnung
     
  3. Fisher, R.; Ury, W., Patton, B.: Das Harvard-Konzept, Der Klassiker der Verhandlungstechnik, Campus Verlag, 23. Auflage, 2009
     
  4. wikipedia: Spiral_Dynamics
     
  5. zitiert aus der Dankesrede von Max Frisch zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1976, mit freundlicher Erlaubnis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels